Jorge A. Kardinal Medina Estévez


Es ist eine objektiv wahrhafte Beurteilung, dass die (Institution der) Familie in nicht wenigen Teilen der Welt eine echte und tiefe Krise durchläuft. Angesichts dieser Tatsache, wäre es keine weise Haltung, sie zu verkennen oder kleinzureden: man muss sie wahrnehmen, ihre Ausmaße und Größe versuchen zu ermessen und sich bemühen, Mittel zu finden, sie zu überwinden. Das ist der Zweck dieses Heftes „Vorrangige Option für die Familie“, das ich hier vorstelle.


Die Krise der Familie ist nicht die einzige, die die Welt heute bekümmert. Es gibt andere und nicht selten zeigen sich wechselseitige Verhältnisse und Zusammenhänge zwischen ihnen. Wir denken da, zum Beispiel, an die Anwendung der Falschheit in all ihren Formen als ein legitimes Mittel zur Bewältigung von schwierigen Situationen, an die Vermehrung egoistischer Vorgehensweisen, an die skandalösen Unterschiede zwischen denjenigen, die einen maßlosen und sogar luxuriösen Wohlstand genießen, und der Menge derer, denen selbst das Notwendigste fehlt, an die monströse Ausbreitung des Drogenhandels und der Drogenabhängigkeit, und andere Situationen, die die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens bedrohen.


Es gibt da diejenigen, die daran glauben, dass die Lösung dieser Probleme hauptsächlich mit der Vermehrung von Gesetzen und Kontrollen erreicht werden könnte. Ohne die Wirksamkeit dieser Mittel gering zu schätzen, sollte jedoch ein Christ sich der Worte Jesu erinnern: „Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl falsches Zeugnis und Lästerung. Das ist es, was den Menschen verunreinigt“ (Mt 15,19-20 und Mk 7,21-23). Das wichtigste ist demnach die Bekehrung des Herzens, ohne die alle äußeren Mittel nur eine vorübergehende und begrenzte Wirkung haben.


Doch die Bekehrung des Herzens setzt eine radikale Läuterung der Gedanken voraus, wie der hl. Paulus mahnt: „Macht euch nicht die Art dieser Welt zu eigen, sondern wandelt euch um durch Erneuerung eures Denkens, um zu prüfen, was der Wille Gottes ist, was gut, wohlgefällig und vollkommen“ (Röm 12,2). Viele Erscheinungen dieser Welt tragen den Stempel des Bösen (vgl. 1 Joh 5,19), dessen, den Jesus „Lügner und Vater der Lüge“ nennt (Joh 8,44), der seine Spuren mit Vorliebe in Irrtümern unter dem Schein von Wahrheiten hinterlässt, und die Wahl dessen, was für den Menschen wirklich Gut ist, verfälscht. 


Natürlich fordert die Bekehrung des Herzens im Bereich der Familie ein lebendiges Wissen über ihre Natur, als ein Abbild der ehelichen Liebe zwischen Gott und seinem Volk und zwischen Christus und seiner Kirche. Die christliche Familie entsteht einem sakramentalen Bund, einem Erguss der Gnade, und als solche einer Berufung zur Heiligkeit derer, die dazu berufen wurden, ihren Glauben im Ehestand und in den elterlichen Verantwortungen zu leben. Diese beschränken sich nicht auf das weltliche Wohlergehen, sondern müssen im Laufe der irdischen Pilgerschaft im Bereich der Gnade verwirklicht werden, um mit Freude zum Ziel der Glorie und der Seligkeit zu gelangen, zu dem uns die Taufe berufen hat.


Die christliche Familie ist von ihrer eigenen Natur her eine religiöse Einrichtung, aber nicht nur als eine nebensächliche Bezeichnung nach dem sie es sein kann oder nicht, sondern sie ist es von ihrem Wesen her. Für christliche Eheleute gilt, wie für jeden Jünger Christi, die programmatische Behauptung des hl. Paulus: „… denn leben wir, so leben wir dem Herrn“ (Röm 14,8). Und das unter allen Umständen; nichts darf von der köstlichen Folge der Weihe der Taufe, verloren gehen, damit sie in der „Hauskirche“ von den Eheleuten gelebt werden. Daher die Verantwortung der Eltern, den Kindern den Glauben zu lehren und die Wichtigkeit der täglichen Gebete in der Familie vor dem Hausaltar.


Die Mitglieder der Familie können, wie alle Christen, Schwächen aufweisen oder gar sündigen. In diesem Fall steht ihnen die Möglichkeit offen, sich in die unendliche und väterliche Barmherzigkeit Gottes zu flüchten, der sie zur Bekehrung durch eine ernsthafte Reue aufruft. Nach dem Konzil von Trient ist „die Reue der Schmerz und die Abscheu der Seele über die begangene Sünde mit dem Vorsatz, künftighin nicht mehr zu sündigen“ (Katechismus des Konzils von Trient, 3. Teil, Kapitel V, Nr. 23).


Jorge A. Kardinal Medina Estévez, aus dem Vorwort des Buches Die Keuschheit, DVCK, Frankfurt am Main.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert