Jesus hat jetzt viele Jünger, die im himmlischen Reich gern mit ihm herrschen möchten, aber wenige, die sein Kreuz auf Erden tragen wollen. Viele, die gerne seine Seligkeit mit ihm teilen möchten, aber wenige, die in der Trübsal mit ihm aushalten wollen. Viele, die mit ihm essen und trinken möchten, aber wenige, die mit ihm fasten wollen. Alle möchten mit ihm Freude haben, aber wenige wollen mit ihm leiden. Viele folgen Jesu nach bis zum Brotbrechen beim Abendmahle, aber wenige bis zum Trinken aus dem Leidenskelche. Viele ehren seine Wunder, die er getan, aber wenige teilen mit ihm die Schmach des Kreuzes, die er gelitten hat. Viele lieben Jesus, solange sie nichts zu leiden haben, loben und preisen ihn, solange sie Tröstungen von ihm empfangen. Aber wenn er sich verbirgt und nur eine kurze Weile sie allein lässt, da klagen sie oder verlieren gar allen Mut.
 
Die aber Jesus seinethalben und nicht ihres Trostes wegen lieb haben, die loben ihn in den Tagen der heißesten Angst wie in den Stunden des höchsten Jubels. Und wenn er ihnen nie eine himmlische Tröstung senden wollte, würden sie ihn doch immer loben, ihm allzeit danken.
 
Wenn der Mensch all seine Habe daran gibt, so ist es noch so viel als nichts. Wenn er die strengste Buße tut, so ist es noch sehr gering. Wenn er alle Wissenschaft erfasst hätte, so wäre er noch fern. Und wenn er große Tugend und brennende Andacht hätte, so fehlte ihm noch viel, nämlich gerade das eine Notwendige. Dieses ist: Nachdem du alles andere schon verlassen hast, so musst du auch dich selbst verlassen, ganz von dir selbst dich entfernen und alle Eigenliebe ohne Erbarmen ans Kreuz schlagen.
 
(Thomas von Kempen, Vier Bücher von der Nachfolge Christi, München 1917, S. 107f.)
 
 

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