Das Fasten ist ein ebenso wesentlicher Teil des kirchlichen Lebens wie das Beten. Es hat seinen Grund in der bösen Begierlichkeit, die auch nach der Taufe noch bleibt. Sein Zweck ist die Bezähmung der Begierlichkeit, damit der Geist die Herrschaft behaupten und Gott dienen kann. 
Alles, was zur Bezähmung der Begierlichkeit und zur Förderung der Übermacht des Geistes im Gehorsame gegen den Willen Gottes geschieht, ist Fasten im weiteren Sinne des Wortes. 

Jede Unterdrückung eines Verlangens nach Vergnügen und Ergötzung ist ein Fasten, wenn sie in der Liebe Gottes ihren Grund und die Förderung dieser Liebe zum Zweck hat. Jede willige Ertragung eines Ungemachs, das der Sinnlichkeit lästig und zuwider ist, gehört zum Fasten. Das friedliche Auskommen mit reizbaren und unverträglichen Menschen, die Unterdrückung jedes unnötigen Verweises, das Schweigen bei Schmähungen, die ungerecht über uns ergehen, das Zufriedensein mit dem Wenigern und Schlechtern – das alles gehört zum Fasten im weiteren Sinne des Wortes. Alle Übungen der Demut und Sanftmut sind Übungen des Fastens; denn durch sie wird der böse Zunder der Begierlichkeit in uns abgeschwächt und immer mehr ausgelöscht, und durch sie wird die Herrschaft des Geistes über das Fleisch befestigt.

Gehen wir auf den Ursprung dieser Unordnung in uns, auf den Ursprung der bösen Begierlichkeit zurück, so finden wir denselben in der Lüsternheit nach der verbotenen Frucht und im Genusse derselben.
 

Von wo das Übel ausgegangen, von da muss auch durch Anwendung des Gegenteils die Heilung beginnen. Von der Lust am verbotenen Baume ist der Fluch über uns ausgegangen. Vom Todesleiden am Baume des Kreuzes ist uns aller Segen und alles Heil gekommen. Der Genuss der verbotenen Frucht war der Anfang des Heißhungers nach fleischlichen Gelüsten, an dem das ganze Menschengeschlecht leidet. Die Versagung des Genusses, die uns die Kirche vorschreibt, wird uns den Weg zum Heile bahnen und uns den Wandel auf diesem Wege erleichtern.

So kommen wir denn zum Fasten im engeren Sinne des Wortes. Es ist die Enthaltung vom Genusse der Speisen und Getränke für eine bestimmte Zeit. Von dieser Übung der Selbstverleugnung und Abtötung finden wir überall Spuren, wo immer die Störung der ursprünglichen Ordnung geahnt, und die Schmach der durch die Sünde gewordenen Unordnung gefühlt wurde. Nur wo der Mensch seine höchste Auszeichnung nicht mehr kennt und sich vom unvernünftigen Tiere nicht mehr unterscheiden will, nur da verlieren sich alle Spuren vom Fasten.*

Quelle: In „Herz Jesu Blog“  aus: Das kirchliche Leben des katholischen Christen – ein Unterrichtsbuch für das christliche Volk, von Dr. Magnus Jocham, Professor der Theologie, mit Gutheißung des hochwürd. Erzbischöfl. Ordinariats München-Freising, 1859

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