Und da sehe ich es, – ich sehe es überdeutlich, – ich sehe es und erschauere. Ich sehe, dass das Kreuz im Herzen eines jeden Menschen aufgerichtet steht. Keiner kann diesem Kreuz entgehen. Jeder muss es ertragen. Dabei spielt es keine Rolle, ob er dies bejaht oder verneint. Bei vielen aber vernehme ich ein Geschrei der Klage, das mich erreicht, – einen Notruf, der aus dm Urgrund ihres Wesens hervorkommt. Das klagende Rufen ist deutlich und verständig und keiner kann es überhören.
Unbegreiflich! Die Menschen verstehen die Sprache ihres eigenen Herzens nicht mehr. Sie vereinen in sich die Stimme aus der Tiefe. Ihr Antlitz ist zerrissen wie das Angesicht mancher Gestalten in Pablo Picassos Gemälden. Ihr Herz ist zerrissen. In einer stetigen Spannung, jagen sie nach draußen vor der Tür in das gleißende Licht nichtsagender Dinge. Pausenlose Bilder und Worte bieten Waren an. Viele stürzen sich auf die aufgebauschten Versprechen, die alle Tage durch nie endende Fernsehsendungen ins Haus kommen. Sie werden in einer ewigen Narretei und Unersättlichkeit getäuscht. Das höhnische Gelächter der Lieblosigkeiten und die ständig leeren Herzen inmitten eines vollen Besitzes ist ihr Lohn. Sie betrügen sich selbst und bitter Klagt ihr Herz, dessen Stimme sie zu erwürgen versuchen.
Wahrhaftig! Schon hat die Wahrheit des Kreuzes sie getroffen. Schon durchbohren die Näfel des Längsbalkens, der von der Erde zum Himmel aufstieg, Fleisch und Seele und heften sie ans Holz fest. Alle hängen daran, – alle, die dem Kreuz entlaufen wollen und doch wider Willen dessen Schmerzen tragen müssen. Aber das Kreuz erlöst nicht. Sie hängen alle daran wie der linke Schächer und verfluchen die Leere und das tötende Nichts. Sie verfluchen in Bitternissen, bis in den Tod. Sie lästern in schrecklichen Blasphemien, aber der Längsbalken, der von der Erde zum Himmel aufstieg, steht unbeweglich und bleibt an seinem Ort. Er überragt den Himmel, die Erde überschreitend, und durchschneidet Leib, Psyche und Geist. Denn, um eine tote Leere als sinnvoll auszugeben, bedarf es eines enormen Selbstbetrug. Auf die Dauer hält diese Spannung der inneren Lüge keiner aus. Mit welcher Macht aber will sich der leugnende Mensch von diesem Längsbalken, der uns in einem absoluten Sinn an Gott fesselt, lösen?
Aber auch der Querbalken und seine hängende Last bleiben inmitten des Herzens eines jeden Menschen. – Ja, die Menschen sind sich in den dichten Ballungen ihrer Zentren, sehr nahe gekommen. Aber mitten durch die dichtbesiedelten Häuser und Blöcke und mitten durch die angefüllten Straßen ihrer Städte und Ortschaften zieht das Gespenst der Einsamkeit und die Not der Verlassenheit. Zwischen Mensch und Mensch zerreißt nur allzu oft das brüderliche Band. Oft sprechen sie dieselbe Sprache und bewohnen den selben Block, aber sie verstehen sich gegenseitig nicht. – Ein leeres Grußwort, ein achtloses Vorüberschreiten, die Türe der eigenen Wohnung schnappt ins Schloss und man ist allein zwischen seinen vier Wänden, alleingelassen, einsam geworden. „Was geht mich denn mein Nächster an? Bin ich denn der Hüter meines Bruders?“ – Und wer so spricht ist in seinem Herzen längstens Kain.
In die Einsamkeit hinein spricht dann pausenlos der große Bruder über jenen magischen Sprechapparat, der in den Stuben aufleuchtete. Jemand spricht. Viele Spiele werden gespielt. Die Augenpaare richten sich hypnotisiert zur flammenden Wand hin. Die Bilder wechseln in immer neuen Farben und Schattierungen. Unterschwellige Bilder unserer Seele werden entblößt und wieder verdeckt. Sehnsüchte werden angesprochen, Triebelelemente angeschoben. Ein vieltausendköpfiges DU tritt in die enge Wohnstube und lärmt, – aber nicht im lebendigen Gegenüber von Angesicht zu Angesicht, von Blut zu Blut, sondern immer nur im zauberreichen Trick einer flimmernden Wand. – Doch, je mehr der Sprechapparat betört, um so leerer bleibt das Herz. Die Begeisterung ist nicht echt, sondern sie ist Augenweide und Ohrenkitzel. Die Zuneigung ist oberflächlich und vorüberhuschend, der menschliche Kontakt ist ein fingierter.
Wenn dann der Kasten schweigt und das Licht erlischt, ist kein liebender Mensch im eigenen Zuhause, sondern nur die verlöschende Erinnerung einer Selbsttäuschung. Dann schreit das Herz auf und weint. Und ist das nicht wie bei allen Vergiftungen? Wenn das Gift in der Wirkung nachlässt, braucht man neues, obwohl man weiß, dass dies Zerstörung bedeutet.
Den Rest tut der Egoismus. Jeder will nach den Maßstäben des großen Bruders angesehen sein, reich und groß – und emanzipiert.Man umgibt sich das eigen Herz mit einem großen Wall, um den andern nicht in Liebe beachten zu müssen. Man spielt die Feurigen Spiele der fleischlichen Liebe und Leidenschaft, solange man haben kann und der andere gehen muss, – aber die wahre Liebe, in der die Existenz des Gegenüber, in der das reiche und so arme DU des anderen vor einem steht und alles einfordert, diese wahre Liebe verweigert man.
Dann jedoch, als es Nacht geworden ist, und das Herz nach wahrer Liebe schreit, ist kein Bruder und keine Schwester da, die sich in Liebe dem eigenen armen Ich erschlossen hätten. Man ist in die eigene kalte Hölle eingegangen. Jeder von uns weiß doch, dass der Mensch nur im Menschen fruchtbar werden kann! Jeder hat es klar vor Augen, dass Liebe ein Überspringen seiner selbst ist, und das in Hingabe, Opfer und Bereitschaft für den andern. In der Liebe entschwindet das Eigene ins Selbstlose. Die Liebe bringt gewaltige Opfer und zählt sie nicht und wiegt sie nicht auf der Waage ab, als ob der andere unter einem Lohnanspruch stünde und zu zahlen habe. Liebe findet ihr Urbild in dem, der am Kreuz starb unter Hingabe seiner Selbst: seines Leibes, seines Blutes, seines Schicksals. Aus Liebe hat er sich der glanzvollen Gestalt entäußert und die des Knechtes angenommen. Aus Liebe geht er für uns den Weg der Verachtung und de Kreuzes, an dem er nun hängt. – Ganz wird die Liebe nur von den Menschen erkannt, die sie selbst wie der am Kreuz ausüben, indem sie sich selbstlos verschenken.
Quelle: Pilgerfahrt nach Fatima – 1967 – P. OTTO MAIER SJM. – SJM-Verlag – Neusäß