Unsere Wallfahrt hat uns in die alte Römerstadt an der Mosel geführt –
eigentlich aber führt sie uns in das Zentrum unseres Glaubens und damit
an den Brennpunkt der geistigen Auseinandersetzungen unserer Zeit.
Da steht nun nicht die Frage zur Debatte, ob die alte ehrwürdige
Reliquie des Heiligen Rockes wirklich mit jenem Gewand Jesu
gleichzusetzen sei, um das die Legionäre Roms am Fuβe des Kreuzes
gewürfelt haben. Da geht es vielmehr um die Frage, die Jesus bei
Caesarea Philippi den Aposteln gestellt hat: Für wen halten die Leute
den Menschensohn – und: Für wen haltet ihr mich?
Es war Petrus, der das Schweigen der anderen brach: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“
I
Auch heute könnte der Herr so fragen – und er fragt auch uns, was die Leute, was wir von ihm hielten!
Der Antworten sind viele. Ein frommer, menschenfreundlicher Rabbi, der
mit seinen gemütvollen Lehren vom liebenden Vater im Himmel seinen
Zuhörern die Härten des Lebens verklärte?
Aber nein, so andere, er war der Lehrer einer hochstehenden
Sittlichkeit! Oder doch ein Rebell gegen das religiös-politische
Establishment der Tempelhierarchie? War er nicht gar ein engagierter
Sozialreformer auf Seiten der Armen und der Randgruppen der
Gesellschaft, gar ein Freiheitskämpfer gegen die römische
Besatzungsmacht? Wer weiβ, welch andere Antworten noch gegeben werden
könnten.
Wie aber erschien er seinen Zeitgenossen? Für sie war er ein Mann – so
zeichnen ihn die Augen- und Ohrenzeugen seines Lebens – , der durch die
Gewalt seines Wortes und die Macht seiner Taten die Menschen in Scharen
an sich zog.
Unter ihnen waren jene, die ihm als seine Jünger folgten, aus denen er
die Zwölf erwählte, die er Freunde nannte. Sie alle haben in den knapp
drei Jahren, die sie an der Seite ihres Meisters erlebten, bis dahin
Unvorstellbares erfahren. Mit einer Hand voll Broten macht er Tausende
satt, heilt Kranke, mit einem Wort, kommt über die aufgewühlten Wogen
des Sees in ihr Boot und ruft den toten Jungen, das tote Mädchen, den
toten Freund zurück ins Leben. Momente, in denen sie sich vom Schauder
überwältigt fragten: „Wer ist dieser, dass ihm selbst Wind und Wellen
gehorchen?“
Er war nicht wie einer ihrer Schriftgelehrten – er lehrte wie einer, der
Macht hat. Er konnte von sich selbst sagen: „Hier ist einer, der mehr
ist als Salomon – hier ist einer, der mehr ist als der Prophet Jona.
Sichtbar, erfahrbar für alle, die ihm begegneten, sprengten Wort und Tat
des Jesus von Nazareth den Rahmen menschlicher Erfahrung.
Wer ist dieser? Fragten sie, und Petrus sagt zu ihm: „Herr, geh weg von
mir, ich bin ein sündiger Mensch.“ Er spürte – und alle spürten es:
dieser Jesus war kein Mensch wie alle anderen.
Als dann – es war bei Caesarea Philippi an den Jordanquellen – Jesus
fragte: „Für wen haltet ihr mich?“ Da sagte Petrus: „Du bist der
Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“ Simon, der Sohn des Jona,
Kephas, Petrus, wie Jesus ihn nannte, hat in dem Augenblick, als er
dieses erste Glaubensbekenntnis sprach, schwerlich Vollsinn und Gewicht
dessen begriffen, was er da gesagt hat. Es war ihm, wie Jesus sagte,
nicht von Fleisch und Blut gesagt, d. h. auf menschliche Weise klar
geworden: der Vater im Himmel hatte es ihm geoffenbart.
Als dann der am Kreuz Gestorbene und Begrabene am Ostermorgen in
unvorstellbar neuer Lebendigkeit vor die Seinen trat, da wurde es ihnen
noch klarer, dass hier mehr vor ihnen stand als Fleisch und Blut. Da
mochten sie sich an jenes Streitgespräch mit seinen Widersachern
erinnern, die Jesus vorgeworfen hatten „Du bist noch nicht fünfzig Jahre
alt und willst Abraham gesehen haben“?! Jenen Abraham meinten sie, der
vor zweitausend Jahren gelebt hatte! Und Jesus hatte damals geantwortet:
„Ehe Abraham existierte, bin ich!“
Das heiβt: ich bin vor aller Zeit!
So reifte in den Jüngern immer mehr die Erkenntnis, dass in der Gestalt
Jesu von Nazareth ihnen Gott selbst entgegentrat. Nun nannten sie ihn
nicht mehr „Meister“, „Rabbi“, sie nannten ihn mit demselben Namen, mit
dem sie Gott anriefen: „Kyrie“ – „Herr“.
Betendes Versenken in das Wort Gottes, geleitet von Gottes Geist, führte
schlieβlich durch schwere Auseinandersetzungen hindurch im Laufe der
ersten vier Jahrhunderte zur Formulierung jenes Glaubensbekenntnisses
der Konzilien von Nicaea und Chalcedon, das wir heute noch Sonntag um
Sonntag sprechen: „Ich glaube an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes
eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit …“
II
Und nun die Frage: Was hat das Konzil von Nicaea, was hat die Kaiserstadt Trier, was hat der Heilige Rock mit alledem zu tun?
Mir scheint, es ist kein Zufall, dass die ehrwürdige Reliquie – gerade
in dieser Stadt – aufbewahrt und verehrt wird. Dieser Heilige Rock weist
uns auf die wahre Menschennatur Jesu Christi hin – und die Stadt Trier
erinnert uns an den heiβen Streit der Geister zur Zeit des Konzils von
Nicaea des Jahres 325, in dem es um den Glauben an die wahre Gottheit
Jesu ging.
Hier in Trier weilte der heilige Athanasius, der wegen seines Glaubens
an die wahre Gottessohnschaft Jesu von seinem Bischofssitz Alexandrien
nicht nur einmal vertrieben worden war. Hier wirkten während des ganzen
4. Und 5. Jahrhunderts Bischöfe, die zu den treuesten Bekennern des
wahren Glaubens zählten und der Irrlehre des Arius kraftvoll
widerstanden. Nach Trier zog es darum auch den heiligen Martin von
Tours.
Trier – ein Hort des wahren katholischen Glaubens in stürmischer Zeit – und der Heilige Rock – ein Ärgernis.
Erinnern wir uns an das Jahr 1844, in dem nach langer Zeit Bischof
Arnoldi erneut zur Heilig-Rock-Wallfahrt aufgerufen hat. Es war ein am
Zölibat und am Glauben der Kirche gescheiterter Kaplan, Johannes Ronga,
der darauf mit einem wütenden offenen Schmähbrief an Bischof Arnoldi
geantwortet – und die sogenannte Deutsch-katholische Kirche gegründet
hat – ein Christentum ohne Dogma, ohne Rom, ohne Sakrament und ohne
Priester – und natürlich ohne Zölibat.
Ganz ausdrücklich stellte man fest, dass jeder von Rongas Anhängern
„frei“ entscheiden könne, ob er an die Gottheit Jesu glauben wolle oder
nicht. Nun, es hat keine zwanzig Jahre gedauert und der Spuk war
verschwunden.
Bei der Trierer Wallfahrt des Jahres 1844 bezeugten dagegen weit mehr
als eine halbe Million Pilger ihren Glauben an Jesus Christus, den
Mensch gewordenen Gottessohn.
III
Dieses Bekenntnis abzulegen sind auch wir nach Trier gekommen. Ein
klares Bekenntnis zu Jesus Christus ist in unseren Tagen von groβer
Dringlichkeit, ist es doch weithin alles andere als selbstverständlich,
dass selbst alle Kirchgänger die Aussagen des Glaubensbekenntnisses
„Jesus, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau
Maria, am dritten Tag wieder auferstanden von den Toten“ buchstäblich
ernst nehmen.
Allzu lange haben Theologen und Priester die Berichte der Evangelien als
erbaulich-fromme Erzählungen der frühen Kirche hingestellt, denen nicht
geschichtliche Tatsachen zugrunde liegen, sondern irgendwelche
Glaubensvorstellungen der Urgemeinde.
Demgegenüber stellt die Kirche in Übereinstimmung mit der Kirche der
zwei christlichen Jahrtausende: „Unsere heilige Mutter, die Kirche, hat
entschieden und unentwegt daran festgehalten und hält daran fest, dass
die vier Evangelien … zuverlässig überliefern, was Jesus der Sohn Gottes
… wirklich getan und gelehrt hat bis zu dem Tag, da er (in den Himmel)
aufgenommen wurde.“ So lehrt zuletzt das 2. Vatikanische Konzil.
Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch – dies glauben zu sollen
ist natürlich eine intellektuelle Herausforderung, die umso härter ist,
je mehr man sich der Unendlichkeit des Unterschieds bewusst wird, der
sich zwischen Schöpfer und Geschöpf auftut.
Je mehr wir darüber nachdenken, je mehr wir uns anstrengen, dieses Mit-
und Ineinander von Gott und Mensch in der Gestalt Jesu auf den Begriff
zu bringen, desto mehr müssen wir erleben, wie bald unsere Begriffe und
Ausdrucksmöglichkeiten an dem diamantenen Felsen des Mysteriums
zerbrechen.
Selbst die Worte des Dogmas, so unzweifelhaft wahr sie sind, können doch nicht die ganze Fülle der Wahrheit fassen.
Dennoch wissen wir, dass Jesus durch seinen Tod und seine
Auferstehungseiner Botschaft das göttliche Siegel der Wahrheit
aufgeprägt hat. „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist
und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“ – jene Kunde, die
seither die Kirche bewahrt und verkündet.
Kein Zweifel, liebe Brüder und Schwestern, hier stellt sich auch jedem
von uns die Frage des Herrn: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Eine
Frage, an deren Beantwortung sich eines jeden Menschen ewiges Schicksal
entscheidet.
Wer weiβ, für wie viele gilt, was der hl. Paulus sagt: „sie stieβen sich
am ‚Stein des Anstoβes’, wie es in der Schrift heiβt: Siehe, ich richte
in Sion einen Stein auf, an dem man anstöβt, einen Felsen, an dem man
zu Fall kommt. Wer an ihn glaubt, wird nicht zu Grunde gehen“ (Röm. 9,
32f.).
IV
In klarer Erkenntnis der geistigen Situation unserer Zeit hat der
Heilige Vater ein „Jahr des Glaubens“ angekündigt und zur
Neu-Verkündigung des Evangeliums namentlich in Europa aufgerufen. Dieses
Evangelium aber heiβt Jesus Christus, und von ihm sagt Johannes: „Das
Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“
Für dieses Fleisch-Werden, dieses Mensch-Werden des ewigen Gottessohnes
ist der Heilige Rock ein so sichtbares, greifbares, ehrwürdiges Symbol.
So soll denn sein Anblick und die Verehrung, die wir ihm erweisen, uns
allen ein kraftvoller Ansporn sein, Zeugnis von Jesus Christus
abzulegen. Bekennen auch wir wie einst Petrus: „Du bist Christus, der
Sohn des lebendigen Gottes.“
Quelle: Kath.Net